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„Indem wir der NS-Opfer ehrend gedenken, geben wir ihnen die Würde
zurück, die ihnen von den Nazis brutal genommen wurde“, erklärte
Oberbürgermeister Christian Schuchardt anlässlich der Enthüllung des
Schilds „Theresia-Winterstein-Straße“. Die Sängerin, Tänzerin und später
engagierte Streiterin für eine Wiedergutmachung an den Sinti und Roma
gehörte zu den Überlebenden des Porajmos, dem Völkermord an den Sinti
und Roma. Es blieben bei der 2007 in Würzburg gestorbenen Sintezza
lebenslang Narben und Traumata, sie hatte aber auch die Kraft, ihre
Geschichte weiterzuerzählen und aufzurütteln.
Die Familiengeschichte der Wintersteins steht exemplarisch für den
Völkermord an den Sinti und Roma. Viele von Theresia Wintersteins
nächsten Verwandten starben im KZ Auschwitz-Birkenau. Ihre 1943
geborene Tochter Rolanda starb hingegen mitten in Würzburg, in der
Kinderklinik. Am neugeborenen Mädchen, wie auch an ihrer
Zwillingsschwester Rita, wurden riskante medizinische Versuche
durchgeführt, die auch den Tod in Kauf nahmen. Die Nazis entschieden,
gestützt auf ihre rassistische Ideologie, über den Wert und die
Existenzberechtigung menschlichen Lebens. Diese Entscheidungen trafen
auch Mediziner vom Schlage eines Werner Heyde, der in Würzburg
Klinikdirektor und Professor für Neurologie und Psychiatrie war und in
der Reichshauptstadt die NS-Euthanasie-Verbrechen verantwortete.
Minderheiten und Patienten wurden in diesem Unrechtsstaat auch von
Medizinern als „lebensunwert“ betrachtet, was einem Todesurteil
gleichkam. Bei Zwillingen kam man zu einem milderen Urteil; diese
konnten hingegen für pseudowissenschaftliche Studien noch „wertvoll“
sein – so die perfide Logik im NS-Staat. Man ließ Theresia Winterstein
ihre Kinder austragen unter der Auflage, sie wenig später abzugeben.
Eine Mutter muss also den unfassbar schweren Gang antreten und ihre
vier Wochen alten Babys den gleichen Medizinern ausliefern, die sie und
weitere Familienangehörige der Zwangssterilisation unterzogen haben. Die
beschriebene Mutter ist Rita Progmores Mutter. Das Mädchen, das die
nächsten Tage nicht überleben wird, ist ihre Zwillingsschwester
Rolanda. Ihre Mutter findet sie tot mit einem Kopfverband, nachdem sie
sich Zutritt zur Klinik verschafft hatte. Rita wird von der Mutter
befreit, auch bei ihr bleiben nach dem Klinikaufenthalt eine lange Narbe
am Kopf und verschiedene Beeinträchtigungen zurück. Diese unfassbare
Konstellation schildert Rita Prigmore in einem Zeitzeugengespräch im
Ratssaal des Würzburger Rathauses vor Berufsschülerinnen und
Berufsschülern wenige Stunden vor der Straßenumbenennung
Mutter und Tochter werden nach dieser furchtbaren Trennung ein Leben
lang ganz besonders aufeinander aufpassen. Durch die Stärke der beiden
Persönlichkeiten, das ist das Tröstende an ihrem Bericht, werden sie
sich in den nächsten Jahrzehnten viel Lebensfreude zurückerobern. Und
beide werden den Kampf für Entschädigungen der Opfer und gegen das
Vergessen dieser Untaten aufnehmen. So wie nun auch eine Straße
beständig an Theresia Winterstein erinnert. In ihrer Heimatstadt,
denn so habe sie Würzburg - allem erfahrenem Unrecht zum Trotze - immer
gesehen. Hier trat sie bis zum Berufsverbot im Theater auf und erfreute
sich großer Beliebtheit und hier boxte sie sich und ihre Familie in der
Nachkriegszeit im Wohnwagen am Main oder in den einfachsten Zellerauer
Barracken als Textilhändlerin durch.
Das junge Publikum im Ratssaal verfolgte gebannt das Gespräch zwischen
Rita Prigmore und Jonathan Mack, Wissenschaftlicher Leiter beim
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Wer mehr über das Leben von Rita
Prigmore und ihrer Mutter Theresia Winterstein erfahren möchte, findet
in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks einen vielleicht ähnlich
intensiven Vortrag. In der Reihe „Zeugin der Zeit“ gibt es den
Mitschnitt eines früheren Gesprächs mit Rita Prigmore unter dem Titel
„Die Welt ist wunderlich“. Ergänzt werden ihre Erinnerungen und
Appelle an nachfolgende Generationen hier durch zahlreiche Fotos und
biografische Angaben. Das Stadtarchiv veröffentlichte zudem bereits 2008
„Dieselben Augen, dieselbe Seele. Theresia Winterstein und die
Verfolgung einer Würzburger Sinti-Familie im Dritten Reich" von Roland
Flade.
Das aktuelle Gespräch im Ratssaal organisierte die
Gleichstellungsstelle der Stadt zusammen mit dem Würzburger Ombudsrat.
Oberbürgermeister Schuchardt gratulierte der 80-Jährigen bei diesem
Besuch nachträglich zu ihrem runden Geburtstag in diesem Monat und sagte
in seinem kurzen Grußwort, dass das Thema heute schlicht die
Menschenwürde sei. Leider seien die Themen Rassismus, Vorurteile und
Bedrohungen von Minderheiten heute noch genauso aktuell wie vor zehn
Jahren als er Prigmore bei ihrer Auszeichnung mit dem Würzburger
Friedenspreis kennengelernt habe.
Prigmore war schließlich auch am Nachmittag Ehrengast bei der kleinen
Feierstunde zu Ehren ihrer Mutter. Weitere Familienangehörige,
Weggefährten und viele Stadtratsmitglieder waren ins Frauenland
gekommen, wie auch der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und
Roma, Romani Rose, Erich Schneeberger, der Vorsitzende des bayerischen
Landesverbands, Dr. Niels Weise vom Institut für Zeitgeschichte
München-Berlin, Kulturreferent Achim Könneke, Stadtarchivleiter Dr.
Axel Metz und natürlich auch die direkte Nachbarschaft. Mit der
Straßenumbenennung ging ein rund fünf Jahre langer Prozess der
Meinungsbildung in der Erinnerungskultur zu Ende beziehungsweise es
folgt nun ein neues Kapitel: Als 1951 die Straße im Frauenland den Namen
Hermann Zilchers erhielt, würdigte man zweifellos die Leistungen des
Komponisten und Musikpädagogen, die Verdienste des damaligen Leiters des
Bayerischen Staatskonservatoriums und Begründer des Würzburger
Mozartfestes. Mit Zilchers Rolle in der NS-Zeit setzte man sich zu
diesem Zeitpunkt aber nicht kritisch auseinander.
Nach intensiver Befassung m Stadtrat wurde die Umbenennung am 20.
Oktober 2022 beschlossen. Die Entscheidung über die Umbenennung und die
Entscheidung über den neuen Namen der Straße solle man versuchen,
möglichst zu entkoppeln, um beiden Personen gerecht zu werden.
Schuchardt freute sich, dass mit Theresia Winterstein nun nicht „nur“
einem NS-Opfer die Ehre zu Teil wurde, sondern einer Persönlichkeit,
Künstlerin und Bürgerrechtlerin und somit einer Würzburgerin mit
einer großen Lebensleistung insgesamt.
Romani Rose würdigte in seinem Grußwort auch den langen Weg, den Roma
und Sinti nach 1945 noch gehen mussten, bis ihr Völkermord in der
Bundesrepublik vollständige Anerkennung fand und auch Entschädigungen
gezahlt wurden. Theresia Winterstein war in diesen Jahren eine
Mitstreiterin. Aber auch wenn sie eine ausgewiesene Kämpfernatur gewesen
sei: „Theresia Winterstein streckte immer die Hand aus für Verständigung
und Versöhnung“. Rose dankte der Stadt Würzburg und dem Würzburger
Stadtrat, dass sie sich mit dieser besonderen Ehrung diesem Teil der
Geschichte stellen.
Bild Rita Prigmore4
Bewegende Schilderungen im Ratssaal. Rita Progmore im Gespräch mit
Jonathan Mack. Foto: Georg Wagenbrenner
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