"Ampel-Reformwille bei Sozialversicherungen reicht nicht"

Ampel-Koalitionsvertrag zeigt Willen zu Modernisierung und Klimaschutz, lässt aber bei den sozialen Sicherungssystemen grundsätzlichen Reformwillen vermissen.
"Wir haben eine echte Sozialversicherungsreform gefordert mit ganz grundsätzlichen und generationengerechten Strukturänderungen. Und eine solche sieht der Koalitionsvertrag leider nicht vor", kritisierte ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer im Interview mit Rena Lehmann von der "Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ)".
 
Herr Wollseifer, was bedeutet der Koalitionsvertrag der Ampel für das Handwerk?
Diesem Vertrag ist anzumerken, dass Modernisierung und Klimaschutz wirklich gewollt werden. Weniger deutlich ist der Vertrag allerdings im Hinblick auf die Finanzierung der Vorhaben. Schade, dass der Reformwille nicht gereicht hat für die sozialen Sicherungssysteme und deren zukunftssichere Finanzierung. Unsere Sozialsysteme, von Gesundheit bis zur Rente, befinden sich in einem prekären Zustand – und sie werden mit der alternden Gesellschaft an ihre Belastungsgrenze kommen.
 
Was genau ist Ihre Kritik?
Wir haben eine echte Sozialversicherungsreform gefordert mit ganz grundsätzlichen und generationengerechten Strukturänderungen. Und eine solche sieht der Koalitionsvertrag leider nicht vor.
 
Eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge schließen SPD, Grüne und FDP zumindest nicht aus. Womit rechnen Sie?
Ich rechne damit, dass es zu Beitragserhöhungen kommen wird, bei Rente und Gesundheit. Das trifft dann vor allem beschäftigungsintensive Bereiche, wie etwa das Handwerk. Für unsere Betriebe ist die Deckelung der Sozialbeiträge bei 40 Prozent ganz entscheidend. Es macht uns große Sorge, wenn die Ampel-Koalition das nicht mehr zusagt.
 
Was bedeutet das für die Handwerker und für die Betriebe?
Jeder Prozentpunkt mehr für Rente oder Gesundheit bedeutet, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weniger Netto vom Brutto haben. Das muss unbedingt verhindert werden, gerade auch für unsere 5,6 Millionen Beschäftigten im Handwerk. Es kann doch nicht sein, dass trotz hoher Arbeitsbelastung am Ende weniger Lohn in der Tasche bleibt. Für die Betriebe bedeuten höhere Kosten, dass sie künftig noch mehr Aufträge abarbeiten müssen, um zum gleichen Betriebsergebnis zu kommen, wenn sie diese höheren Kosten nicht in höheren Preisen weitergeben können. Und die Betriebe arbeiten schon jetzt am Anschlag.
 
Stichwort Fachkräftemangel: Stellt die Ampel die richtigen Weichen, um dem entgegenzuwirken?
Der Vertrag richtet erkennbar einen stärkeren Blick auf berufliche Bildung. Die Ampel-Parteien haben offenbar erkannt, dass es für ihre ambitionierten Klimaziele und die Modernisierung des Landes beruflich qualifizierte Fachkräfte braucht, die all das auch handwerklich umsetzen. Die Umsetzer und Gestalter des nun auf dem Papier Vereinbarten sind am Ende die qualifizierten Handwerkerinnen und Handwerker, die fertigen, einbauen, installieren, montieren und reparieren. Dass die berufliche Bildung besser gefördert werden soll, unterstützen wir ausdrücklich. Das kommt allen Lebensbereichen zugute.
 
Was halten Sie von einer Ausbildungsgarantie für jeden, die geplant ist?
Die Ausbildungsgarantie setzt am falschen Punkt an. Wir können seit vielen Jahren im Schnitt etwa 20.000 von unseren Betrieben angebotene Ausbildungsplätze im Handwerk nicht besetzen, weil es zu wenig Bewerberinnen und Bewerber gibt. Da muss man ansetzen. Ich haben den Eindruck, die Ausbildungsgarantie ist noch nicht zu Ende gedacht. Insbesondere bei schulisch und nicht betrieblich Ausgebildeten gibt es heute schon große Probleme, sie in eine Beschäftigung in einem Betrieb unterzubringen. Ihnen fehlen die Praxiserfahrung und der Bezug zu Kundinnen und Kunden schon während der Ausbildung. Gute Ausbildungspolitik orientiert sich an den Bedarfen des Ausbildungsmarktes, sie muss die Betriebe und die jungen Menschen gleichermaßen im Blick haben.
 
Was schlagen Sie vor?
Wir wollen qualifizierte junge Menschen nach der Ausbildung haben, die die Kompetenzen dazu erworben haben, in den Arbeitsprozessen zurechtkommen und ihren Lebensunterhalt gut verdienen können. Eine außerbetriebliche Ausbildung bei Trägern oder Schulen kann das so nicht leisten. Der richtige Ausbildungsort ist der Betrieb. Deshalb muss es darum gehen, Ausbildungsbetriebe zu stärken und zu entlasten und ihre große Ausbildungsleistung wertzuschätzen.
 
Ein anderes Thema: Halten Sie die Regelung, dass nur noch Geimpfte, Genesene oder Getestete am Arbeitsplatz sein dürfen, für praktikabel?
Die Corona-Lage hat sich dramatisch zugespitzt. Dass diejenigen, die nicht geimpft sind oder die Auskunft über ihren Impfstatus verweigern, sich jetzt jeden Tag testen müssen, das ist vom Grundsatz her jetzt richtig. Das trägt zur Sicherheit in den Betrieben bei. Es ist aber völlig unklar, wie die Kontrolle vor allem bei den Betrieben funktionieren soll, bei denen die Beschäftigten an wechselnden Arbeitsstätten und Baustellen arbeiten. Da muss die Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums ganz schnell für Klarheit sorgen, wie das praxisnah gemacht werden kann. Es bleibt aber dabei, dass der beste Schutz – persönlich wie betrieblich – die Impfung ist. Daher erneut und umso eindringlicher mein Appell: Lassen Sie sich impfen! Der persönliche Gesundheitsschutz ist ja immer auch ein Schutz der Betriebe, die von Personalausfällen wegen Infizierung oder Quarantäne hart getroffen werden.
 
Wie stehen Sie heute einer allgemeinen Impfpflicht gegenüber?
Meine persönliche Einschätzung dazu hat sich mit der dramatischen Zuspitzung der Lage geändert. Wir haben bundesweite Inzidenzen von über 400 und unser Gesundheitssystem droht, überfordert zu werden. In einer solchen Notlage, in der es gilt, die Gesundheit gerade auch der Beschäftigten in unseren Betrieben zu schützen, verwehre ich mich nicht länger einer Impfpflicht. Unter diesen Umständen erscheint mir eine allgemeine Impfpflicht gerechtfertigt, um eine andernfalls drohende fünfte Welle zu verhindern und die Pandemie langfristig zu überwinden und weitere Lockdowns und damit Schaden von unseren Betrieben und ihren Beschäftigten und Auszubildenden abzuwenden.
Foto: AdobeStock/Rido
Last modified on Montag, 07 März 2022 11:05
Aytürk

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