Fragt man Fachärzte, ist jedes Organ im Körper das Wichtigste. Doch eines ist klar: Wenn Gehirn und Nervensystem nicht richtig funktionieren, wissen die anderen Körperteile nicht, was sie machen sollen. Deshalb ist es wichtig, al- len Störungen und Erkrankungen dieses Systems so schnell wie möglich auf den Grund zu gehen und sie zu behandeln. Nur so können bleibende Schäden verhindert oder zumindest begrenzt werden. Das Klinikum Nürnberg bietet in der Klinik für Neugeborene, Kinder und Jugendliche für alle Betroffenen eine neuropädiatrische Sprechstunde an. Mehr dazu erläutert Oberärztin Dr. Nicole Heußinger im Interview.
Frau Dr. Heußinger, was versteht man unter Neuropädiatrie?
Die Neuropädiatrie oder Kinder-Neurologie, wie diese Spezialdisziplin der Kin- der- und Jugendheilkunde auch heißt, befasst sich mit der Funktion des Nerven- systems im Wachstumsalter. Genau hierin liegt nämlich der größte Unterschied zur Erwachsenen-Neurologie: Beim Heranwachsenden entwickelt sich das Ner- vensystem von den ersten Anlagen in der sehr frühen Phase der Schwanger- schaft bis etwa zum 20. Lebensjahr. Dass sich das Nervensystem verändert, ist die Voraussetzung für alles Wachstum.
Ist die Diagnostik von neurologischen Auffälligkeiten bei Kindern anders als bei Erwachsenen?
Ja. Das sieht man am besten in den ersten Lebensjahren eines Kindes, in denen es ständig neue Fähigkeiten erlernt. Und das macht auch Diagnostik und Be- handlung oft besonders herausfordernd. Was für ein einjähriges Kind normal ist, ist z. B. bei einem Fünfjährigen auffällig. Ärzte müssen daher neurologische Auffälligkeiten bei Kindern immer durch die Brille der kindlichen Entwicklung sehen.
Was sind die häufigsten Störungen oder Erkrankungen, mit denen Kinder und Jugendliche zu Ihnen kommen?
Am häufigsten werden mir Kinder, bei denen es zum Auftreten eines Krampfan- falls kam, vorgestellt. Wichtig ist dabei aber vor allem eines: Nicht immer steckt hinter einem Krampfanfall die Diagnose einer Epilepsie. Es gibt sogar viele Men- schen, die im Lauf ihres Lebens einen hatten, danach aber nie wieder.
Was steckt dann dahinter?
Epileptische Anfälle können verschiedene Ursachen haben. In den meisten Fäl- len spielt eine genetische Veranlagung eine Rolle. Daneben gibt es noch meta- bolische, also vom Stoffwechsel abhängige, und strukturelle Ursachen. Die bei- den letzteren machen aber maximal 20 Prozent aller Fälle aus. Und dann gibt es noch die Fieberkrämpfe, die tatsächlich recht häufig sind. Bei rund acht Prozent aller Kinder kommt es bei Fieber zum Auftreten eines Fieberkrampfes.
Was raten Sie Eltern, deren Kind einen Krampfanfall hat?
Sowohl epileptische Anfälle als auch Fieberkrämpfe sehen sehr bedrohlich aus. Das beunruhigt die Eltern, mehr noch, sie haben Angst, ihr Kind könne sterben. Umso wichtiger ist es, wie in allen Notfallsituationen, Ruhe zu bewahren. Die Eltern sollten ihr Kind so hinlegen, dass es nicht fallen oder sich stoßen kann, oder es im Arm halten. Mit Gewalt festhalten sollten sie das Kind aber nicht, genauso wenig ihm etwas in den Mund stecken. Den Ärzten hilft es sehr, wenn die Eltern die genaue Dauer des Anfalls kennen und den Anfall beschreiben kön- nen – daher bitte, wenn möglich, auf die Uhr sehen und beobachten. Unabhän- gig davon aber unbedingt den Notarzt oder Kinderarzt verständigen. Denn schließlich muss in erster Linie der akute Krampfanfall behandelt werden.
Wie werden die Kinder und Jugendlichen nach einem Krampfanfall behandelt?
Das hängt natürlich ganz von der Ursache des Anfalls ab. Diese wird mit Hilfe unterschiedlicher Methoden diagnostiziert; EEG, MRT und Blutuntersuchungen sind die gängigsten davon. Wenn nach diesen Untersuchungen die Ursache fest- steht, behandeln wir ganz gezielt mit Medikamenten, speziellen Diäten oder in seltenen Fällen mit einer Operation.
Mit welchen Problemen werden Ihnen noch Kinder vorgestellt?
Wenn man alle Vorstellungsgründe zusammenfasst, lassen sich diese vier Grup- pen zuordnen: Epilepsien, akute und chronische entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Entwicklungsstörungen und die Nachsorge von Früh- und Neugeborenen.
Sie sprachen von entzündlichen Erkrankungen, die Kinder und Jugendliche in eine neurologische Behandlung führen. Welche sind das?
Wir unterscheiden hier zwei grundlegende Typen: akute entzündliche Erkran- kungen, wie sie beispielsweise durch Erreger wie Meningokokken, Borrelien oder ähnliches ausgelöst werden können, und chronische entzündliche Erkran- kungen wie Multiple Sklerose. Auch hier ist der Weg ähnlich: Erst muss die ge- naue Ursache festgestellt werden, dann behandeln wir zielgerichtet. Besonders Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen kommen nach Diagnosestellung und Therapiebeginn immer wieder zur Verlaufskontrolle und Therapieanpassung zu uns.
Warum ist die Nachsorge von Frühgeborenen wichtig für die Neuropädiatrie?
Die unterschiedlichen Bereiche des Gehirns und des Nervensystems entwickeln sich während der gesamten Schwangerschaft. Frühgeborenen Kindern fehlt ein gewisser Teil dieser Entwicklungszeit, was ganz unterschiedliche Folgen haben kann. Zwar setzt sich die Entwicklung sowohl bei Frühgeborenen als auch bei Kindern, die nach der 40. Schwangerschaftswoche geboren sind, nach der Ge- burt fort. Allerdings besteht bei sehr unreif geborenen Frühgeborenen ein er- höhtes Risiko für chronische Entwicklungsstörungen und -auffälligkeiten, wie verzögerte Entwicklung, Cerebralparese und Lernstörungen. Aber durch regel- mäßige neuropädiatrische Untersuchungen und im engen Austausch mit ande- ren Fachrichtungen können wir diese frühzeitig erkennen und beizeiten Hilfe anbieten.
Was sind die häufigsten Störungen?
Am häufigsten diagnostizieren wir eine verzögerte motorische Entwicklung. Wichtig ist aber auch hier für die Eltern: „Häufig“ ist ein relativer Begriff! Viele frühgeborene Kinder entwickeln sich normal und haben im späteren Leben keine Einschränkungen durch ihre Frühgeburtlichkeit.
Was wird dabei untersucht?
Wir machen Ultraschall- und gegebenenfalls MRT-Untersuchungen vom Köpf- chen, sehen die Kinder im interdisziplinären Team und führen umfangreiche Entwicklungstests durch, in denen wir uns besonders die motorische Entwick- lung sowie die Sprach- und die Spielentwicklung ansehen. Im Anschluss an alle Untersuchungen besprechen wir den Entwicklungsstand des Kindes genau mit den Eltern und empfehlen gezielte Förderungen.
Gibt es etwas, was sie Eltern, deren Kind eine neurologische Erkrankung be- kommt, mitgeben möchten?
Auch wenn neurologische Störungen und Erkrankungen bei Kindern beängsti- gend und bedrohlich sind, so können sie in den Händen von Spezialisten doch häufig mit guter Prognose behandelt werden. Gehen Sie daher bitte im Zwei- felsfall lieber einmal zu oft zum Kinderarzt. Bei einem konkreten Verdacht dür- fen Sie sich gerne direkt in unserer Sprechstunde vorstellen. Die Neuropädiatrische Sprechstunde am Klinikum Nürnberg Süd findet mitt- wochs und donnerstags von 9 bis 13 Uhr statt, freitags von 10 bis 14 Uhr. Ter- mine können per Telefon unter 0911 398 7755 vereinbart werden.
Bild: Oberärztin Dr. Nicole Heußinger, Klinik für Neugeborene, Kinder und Ju- gendliche am Klinikum Nürnberg
Foto: Uwe Niklas/ Klinikum Nürnberg
Das Klinikum Nürnberg ist eines der größten kommunalen Krankenhäuser in Deutschland und bietet das gesamte Leistungsspektrum der Maximalversorgung an. Mit 2.233 Betten an zwei Standorten (Klinikum Nord und Klinikum Süd) und 7.000 Beschäftigten versorgt es knapp 100.000 stationäre und 170.000 am- bulante Patienten im Jahr. Zum Klinikverbund gehören zwei weitere Krankenhäuser im Landkreis Nürnber- ger Land.
Die Paracelsus Medizinische Privatuniversität in Nürnberg wurde 2014 gegründet und ist zweiter Stand- ort der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. In Nürnberg werden jährlich 50 Medizinstu- dierende ausgebildet. Das Curriculum orientiert sich eng an der Ausbildung der amerikanischen Mayo- Medical School. Die Paracelsus Medizinische Privatuniversität kooperiert zudem mit weiteren wissen- schaftlichen Einrichtungen im In- und Ausland.